Timm Rautert und die Leben der Fotografie

Im Herbst 2021 feiert der Fotograf Timm Rautert seinen 80. Geburtstag. Das Essener Museum Folkwang widmet ihm bereits im Vorfeld eine umfassende Retrospektive, die ein halbes Jahrhundert seines künstlerischen Schaffens umfasst.

Dass es gerade das Folkwang Museum ist, wundert kaum, denn einerseits hat Rautert an der Mitte der 60er Jahre an der Essener Folkwang Schule bei Otto Steinert Fotografie studiert und dort 1967 auch seine junge Kommilitonin Ute Eskildsen kennenlernte, die seine Lebensgefährtin wurde. Sie gilt weltweit als eine der führenden Expertinnen für Fotografie und sammelte nach ihrer Arbeit als freie Fotografin und als Assistentin von Otto Steinert, später Erfahrungen in führenden US-Museen, die sich mit der damals in Deutschland noch weitgehend vernachlässigten Fotografie als Kunstform beschäftigten. Zurück in Deutschland organisierte sie zahlreiche Foto-Ausstellungen, bevor sie 1979 den Auftrag erhielt, als Kuratorin am Museum Folkwang eine fotografische Abteilung aufzubauen. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2012 leitete sie diese und ab 1991 als stellvertretende Direktorin des ganzen Museums.

Rautert, der im westpreußischen Tuchel zur Welt kam und nach dem frühen Kriegstod des Vaters als Kleinkind mit der Mutter ins hessische Fulda flüchten musste, gilt als einer der herausragenden deutschen Fotografen unserer Zeit. Über Jahrzehnte hinweg gelang es ihm, die wichtigsten Strömungen in der Fotografie entscheidend zu prägen, indem er sie antizipiere. Dabei war und ist sein Arbeitsfeld sehr vielfältig, vom Studiofotograf für Galerien, zum Bildjournalist und als neugieriger Chronist der sich verändernden Arbeitswelten. Ab 1993 prägte er bis 2007 als Hochschullehrer die spätere Fotografen-Generation.

Die Basis dafür erarbeitete sich Rautert als Student Steinerts, die ihm rasch ein solides Fundament für seine engagierte, sozialdokumentarische Fotografie schuf. Parallel dazu erforscht er die Grundlagen des Fotografischen und entwickelt die „Bildanalytische Photographie“, die sein künstlerisches Werk methodisch bis heute durchdringt. Der Wechsel zwischen angewandten und künstlerischen Momenten ist in Rauterts Verständnis kein Widerspruch, sondern vielmehr Ausdruck einer dezidierten, fotografischen Autorschaft.

Spannend sind Timm Rauterts Reiseberichte, bei denen er Mitte der 70er Jahre den dem Journalisten Michael Holzach mit der Kamera unter anderem zu bislang eher unzugänglichen religiösen Gruppen wie den Hutterern und den Amish begleitete und die mit dem tragischen Unfalltod des Journalisten Holzach im Jahr 1983 bei der Vorbereitung für die Verfilmung seines zum Kultbuch avancierten Aussteigerberichts „Deutschland umsonst“ ein vorläufiges Ende fanden. Über ein Jahrzehnt lang entstehen daneben auch sozialdokumentarische Reportagen über Arbeitsmigranten, Obdachlose oder.

Ich lernte die Arbeiten Rauterts Mitte der 80er Jahre schätzen, wo er für das Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen die Bilder eines der vom Designer Otl Aicher und seiner Bürogemeinschaft Rotis vom Layout konzipierten Bände der Deutschlandbilder schuf. Im Ausland vom Goethe-Institut präsentiert zeigten sie ein eher ungeschminktes Bild der Arbeitswirklichkeit des Landes – weit weg von der Rheinromantik der Touristiker von der Deutschen Zentrale für Tourismus, der diese Präsentation ein Dorn im Auge war.

Mit Otl Aicher, dem Schwager der Geschwister Scholl, verband Rautert auch die Zusammenarbeit für das exklusive Airline-Magazin Lufthansa‘s Germany, dessen Gestaltung Aicher konzipiert hatte. Aichers klare künstlerische Linie, die auch die von ihm mitgegründeten Ulmer Hochschule für Gestaltung prägte und seine unmissverständliche Haltung zum Nationalsozialismus machten ihn für Lufthansa zu einem willkommenen Partner für Projekte. Ich lernte Rautert bei der Begleitung einer großen Ausstellung über eine von der Airline unterstütze Welttournee der Berliner Philharmoniker kennen, die auch zu einem beeindruckenden Bildband führte. Eine spannende Kombination aus Fotos der begleiteten Künstler, der Analyse der damals noch stark unterschiedlichen Gesellschaften Japans und der USA und dem sozialen Miteinander auf einer solchen Tournee.

Ein etwas anderes Bild der Arbeitswelten vermitteln Rauterts in einer Langzeitdokumentation entstandenen Bilder der im Umbruch befindlichen Auto- und Computerindustrie im Zuge der industriellen Automatisierung. In der Werkgruppe Gehäuse des Unsichtbaren widmet er sich der Fotografie in Forschungs- und Produktionsstätten, bei denen sich die eigentliche Arbeit nicht unmittelbar dem Auge des Betrachters öffnet.

Das Künstlerportrait, das ich bei der Arbeit über die Berliner Philharmoniker verfolgen durfte, prägt immer wieder Rauterts Arbeit. Angefangen hatte es mit einem seiner Kollegen, dem tschechischen Fotografen Josef Sudek, den er anlässlich einer Ausstellung von Otto Steinert und Schülern portraitierte. Es folgten Portraits von Otl Aicher, Pina Bausch, André Heller, Jasper Morrison und Eric Rohmer. Dabei spielt für Rautert nicht nur die Person eine wichtige Rolle, sondern auch deren Umgebung und Handeln. Gerade Otl Aicher konnte er dabei gut beobachten, als er in dessen Auftrag seine Arbeit an der Schrift Rotis bildnerisch dokumentierte, die ihren Namen von dem kleinen Ortsteil vom Allgäu-Ort Leutkirch erhielt, wo Aicher nach der Arbeit am Erscheinungsbild der Olympiade 1972 in München eine alte Mühle auf dem Grenzbach zwischen Bayern und Baden-Württemberg gekauft und zu seinem Atelier umgebaut hatte. Hier wie bei den anderen Künstlerportraits hielt Rautert den Wirkkreis des Gestalters als Teil seiner Identität fest.

Seit seiner Berufung zum Professor für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig arbeitete Rautert intensiver frei, nahm einige alte Projekte wieder auf oder rekonstruierte sie. 2008 ehrt man ihn als ersten Fotografen mit dem undotierten Lovis Corinth-Preis für sein künstlerisches Lebenswerk. Der prächtige Katalog der bis zum 16. Mai in Essen zu sehenden Ausstellung stammt aus dem für seine fotografischen Arbeiten berühmten Göttinger Steidl-Verlag und ist mit umfangreichen, teils unbekannten Bildstrecken, sechs Essays und einer kommentierten Biografie die derzeit wohl umfangreichste Publikation zum Werk des herausragenden Fotografen.

Museum Folkwang, Timm Rautert und die Leben der Fotografie, Steidl Verlag, Broschur, 520 Seiten, ISBN 978-3958299283, 48 Euro

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