Benz, Deutsche Herrschaft

Benz, Deutsche Herrschaft

(c) Herder

Wie haben die Zivilgesellschaften der besetzten Länder während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Besatzung funktioniert? Viel weiß der Normalbürger nicht darüber. Was bekannt ist, sind teilweise die Siegeszüge oder Niederlagen der Armee, der durch die Wannsee-Konferenz instrumentalisierte Genozid an den Juden in Konzentrationslager im Osten und einzelne Episoden aus Rommels Afrika-Feldzug. Doch wie haben die Länder auf die Besatzer reagiert? Haben sie sich mit einer Appeasement-Politik zu Steigbügelhalter der Nazis gemacht oder aus eigenem Interesse deren Politik umgesetzt oder haben sie sich gesträubt und - wo immer möglich – Maßnahmen der Deutschen gegen die eigene Bevölkerung behindert. Manchmal reicht ein Blick auf die Zahlen, um solche Fragen zumindest teilweise zu beantworten. So wurden beispielsweise in den Niederlanden ein Großteil der Juden in den Tod deportiert, während in Belgien die meisten von ihnen überlebten. Zu diesen Fragen wird nach wie vor geforscht. Die verfügbaren Informationen hat jetzt der Historiker Wolfgang Benz in einem Buch zusammengefasst und zeigt darin die Folgen nationalsozialistischer Herrschaft in den einzelnen Ländern Europas. Auch die Rolle der Judenräte gilt es dabei zu hinterfragen, denn es geht weniger um verspätete Schuldzuweisungen, sondern um eine Dokumentation der vorhandenen Handlungsspielräume, Zwänge und Strukturen.

Leider fehlt der Ort, an dem die Herrschaft der Nazis und deren Folgen in den besetzten Gebieten Europas dargestellt werden. Dabei wäre er über sein erinnerungskulturelles Ziel hinaus ein politisches Zeichen für ein einiges Europa. Die Idee dazu entstand in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Damit sollte von dessen Beirat der Vorschlag erweitert, darin alle zivile Opfer Europas zu würdigen. Es wäre mehr als gerecht, den außer wenigen bekannten Orten von Kriegsverbrechen gibt es noch immer zahlreiche Schauplätze solcher als „Vergeltungsmaßnahmen“ titulierter Gewaltherrschaft, die bei uns bisher namenlos blieben. Allein in Belarus löschten deutsche Einheiten über 600 Dörfer mit ihrer Bevölkerung aus. Fast 900 Tage dauerte die Hungerblockade Leningrads von September 1941 bis Januar 1944, die vermutlich rund einer Million Kinder, Frauen und Männer das Leben kostete.

Nur eine gemeinsame Erinnerungsstätte könnte Bezüge setzen und das Verdrängen und Vergessen ändern.

Dennoch füllt das Buch eine Lücke, denn die Zivilbevölkerung in den nationalsozialistisch besetzten europäischen Nationen spielt in der Erinnerung an die Opfer bislang kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt der nach Ländern und Regionen gegliederten Darstellung stehen nicht militärische Ereignisse, sondern das Schicksal der Zivilbevölkerung, der Alltag unter der Okkupation, der Widerstand der Besetzten sowie der Terror der Besatzungsmacht. Damit leistet das Buch einen notwendigen Beitrag zur aktuellen und andauernden Debatte über ein Polendenkmal und das Dokumentationszentrum für alle Opfer der NS-Besatzungspolitik in Berlin.

Der 81-jährige Wolfgang Benz gilt als einer der renommiertesten deutschen Zeithistoriker. Von 1990 bis 2011 lehrte er an der Technischen Universität Berlin und leitete deren Zentrum für Antisemitismusforschung. In seinen Forschungen und Veröffentlichungen beschäftigt sich Benz mit Vorurteilen und ihren Ausprägungen in Antisemitismus, Antiziganismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und veröffentlichte zahlreiche Standardwerke zur Geschichte des Nationalsozialismus. 1992 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2012 wurde er mit dem Preis des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie" ausgezeichnet.

Wolfgang Benz, Deutsche Herrschaft: Nationalsozialistische Besatzung in Europa und die Folgen, Herder, Hardcover, 480 Seiten, ISBN 978-3451389894, 28 Euro

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