Die Lust an der Keule

Die Lust an der Keule

Schinken im Lagerraum

(c) Michael Ritter

Schinken - Eine breite Vielfalt an Genuß

Spanische Schinken

CC0 Pxhere.com

Vor einigen Jahrzehnten hörte man von den meisten Menschen bei uns, wenn man sie nach Schinken aus Italien fragte nur eins: Parma-Schinken. Er galt als erlesene Delikatesse und wurde meist im Feinkost-Geschäft verkauft. Bei den Metzgern standen die verschiedenen regionalen deutschen Schinken wie der norddeutsche Katenschinken oder der zarte Lachsschinken – der eigentlich gar kein Schinken ist, da er aus dem Kotelett ausgelöst wird - hoch im Kurs. Mit regionaler deutscher Herkunft kann bundesweit eigentlich nur der Schwarzwälder Schinken punkten. Doch inzwischen hat sich das Angebot ausgeweitet und neben dem Schinken aus Parma kamen auch andere ausländische Schinkenspezialitäten wie der Serranoschinken und der San Daniele dazu. Auch der teuerste Schinken weltweit, der luftgetrocknete Pata Negra oder Jamón Ibèrico de Bellota von freilaufenden und vom Wildschwein abstammenden schwarzen Schweinen der spanischen Estremadura, die mit ihren dunklen Borsten und den schwarzen Klauen, die ihnen den Namen gaben, in den Kork- und Steineichenwäldern jede Menge Eicheln fressen, hat trotz eines Kilo-Preises von bis zu 350 Euro inzwischen auch bei uns seine Fans. Als ich vor einigen Jahren in Spanien José Gómez kennenlernte, der trotz seiner eindrucksvollen Gestalt „Joselito“ genannt wird, zeigte der mir deutlich, was man aus einer Schweinekeule machen kann. Er gilt als der beste Schinkenhersteller der Welt und gönnt einigen seiner Schinken statt zwei oder drei Jahre Reifezeit auch schon mal acht Jahre. Stolz präsentierte er mir einige sechs und acht Jahre alten „Jahrgangsqualitäten“, die ganz besonders knapp und teuer sind – wie ein exzellenter Wein. Durch die lange Reifung bekommen der Geschmack noch einmal einen Extrakick. Ein gefragter Solitär.

Frisch zugeschnittene Schweinekeulen

(c) Michael Ritter

Getrocknet oder geräuchert?

Toskansicher Schinken

(c) Michael Ritter

Ursprünglich bezeichnet bei uns das Wort Schinken das gekrümmte „Bein“ oder den „Knochen“. Meist stammte es vom Schwein, dessen Keule man ganz nach Gusto pökelt, brüht, brät, trocknet oder räuchert. Neben dem meist nur wenige Tage lang haltbaren Kochschinken hat besonders der Rohschinken eine lange Tradition, da man durch Salzen oder Pökeln und anschließendes Trocknen an der Luft oder durch Räuchern das Fleisch haltbar machen kann und sich bei der Reifung durch enzymatische Prozesse die typischen Aromen entwickeln können, die den Schinken seinen eigenen Charakter verleihen. Besonders in Deutschland setzt man wegen des eher feuchten und kälteren Klimas auf die Kunst des Räucherns, durch das die Oberfläche vor Pilzbefall geschützt wird.

Natürlich kannten Reisende und Feinschmecker durch den schon seit Goethes Zeiten beliebten Spanien- oder Italienurlaub auch andere lokale Schinkenspezialitäten, doch erst im Laufe der letzten Jahrzehnte ist es möglich, diese auch in unseren Supermärkten und vor allem online im Internet zu kaufen.

Parmaschinken schon mengenmäßig primus inter par

Parmaschinken

CC0 Pxhere.com

Während meines Studiums hatte ich eine Zeit in Florenz gelebt, aber die Feinheiten des Schinkens entdeckte ich erst einige Zeit später während eines Praktikums an der Industrie- und Handelskammer in Parma. Morgens gab’s in meiner Pension nur ein sehr frugales Frühstück, meist nicht viel mehr als ein schneller Espresso, aber im Laufe des Vormittags trafen sich die Kollegen im Erdgeschoss an der Bar der Börse, an der Parmaschinken, Tomatenkonserven, Lambrusco und der Parmigiano Reggiano gehandelt wurden. Bei den Gesprächen mit den Kollegen und beim Verkosten der angeschnittenen Schinken, öffnete sich mein Blick für die feinen Unterschiede zwischen den Produkten.

Natürlich betrachtete man dort den Parmaschinken als eine Art primus inter pares, aber schnell wurde mir klar, dass ihm in Italien auch in den anderen Regionen sehr attraktive Konkurrenten erwachsen könnten, denn selbstverständlich ist auch jenseits des Apennins die südlich angrenzende Toskana eine Region, die berühmt für ihre reiche kulinarische Tradition ist. Als eines der herausragenden Produkte gilt der Prosciutto Toscano, ein luftgetrockneter Schinken, der seit Jahrhunderten nach überlieferten Verfahren hergestellt wird.

Der Prosciutto Toscano DOP

Schweinchen vor dem Salumificio Viani

(c) Michael Ritter

Die Tradition stammt von den Bauern, die im Winter ihre sorgfältig gemästeten Schweine schlachten. Ihr Wissen haben sie dann seit dem 15. Jahrhundert von Generation zu Generation weitergegeben und heute wird das Ergebnis als Prosciutto Toscano DOP geschützt und den Feinschmeckern Italiens und der Welt präsentiert. Der Schinken stammt von Schweinen, die aus der Toskana und fünf Regionen rundum stammen und dort auch aufgezogen, gemästet und geschlachtet wurden.

Wie schon gesagt, spürt man bei Verkostungen die feinen Unterschiede zwischen den Produkten. Beim Prosciutto Toscano fallen diese recht deutlich aus, denn die dunkle Farbe und die fast rosa schimmernde Fettschicht verleihen ihm ein unverwechselbares Aussehen und sein intensiv würziger Geschmack und das duftende Aroma sind charakteristisch für seine toskanische Heimat. Viele seiner Freunde finden ihn köstlich und auch ästhetisch ansprechend.

Gerade komme ich wieder zurück von einem Besuch bei einem seiner größeren Hersteller: dem Salumificio Viani. Auch wenn viele deutschen Feinschmecker mit dem Namen meist den Feinkost-Großhändler aus Göttingen verbinden, der Gastronomie, Feinkostläden und Endverbraucher mit Leckereien aus Italien versorgt, hat der mit seinem toskanischen Namensvetter nichts zu tun.

Schinken werden in Form gebracht

(c) Michael Ritter

Vianis Schinkenkammern

In der Schinkenkammer

(c) Michael Ritter

Auf der Website lockt das mittelalterliche San Gimignano mit hohen Geschlechtertürmen, aber davon bekommt man unten im Ortsteil Ulignano im Tal der Elsa nichts zu sehen. Dort hat große Fleischbetrieb im Industriegebiet eine Fabrik gebaut. Die Skulptur eines kleinen Schweinchens empfängt mich am Eingang und zeigt ziemlich deutlich, womit man sich hier am liebsten beschäftigt.

Als das Unternehmen 1922 von Sollecito Viani gegründet wurde, rechnete er wohl noch nicht damit, dass sich der einfache Handwerksbetrieb binnen eines Jahrhunderts zu einem der größten Fleischproduzenten der Region entwickeln würde. Sein Enkel Fabio ist heute Chef des Hauses und seit 2019 Präsident des 1990 gegründeten Konsortiums, dass sich seit der Verleihung des DOP-Siegels im Jahr 1996 um die Vermarktung und Pflege kümmert, das in 20 Betrieben hergestellt wird. 98 Prozent des Prosciutto Toscano werden in einem der Mitgliedsbetriebe hergestellt, einige Produzenten verzichten auf eine Mitgliedschaft.

Auch Fabio und seine Mitbewerber haben mit den steigenden Preisen zu kämpfen, die seit Beginn des Ukraine-Kriegs Europas Wirtschaft und die Bürger belasten. Das macht sich auch beim Absatz bemerkbar. Vor Covid lag die Zahl der produzierten Schinken der Betriebe noch über 400.000 Schinken, doch bei Preissteigerungen um die 14 Prozent, mit der die gesamte Lieferkette zu kämpfen hat und durch die Inflation in Europa ist sie inzwischen gesunken. Wie auch beim Wein oder anderen Produkten sind nicht alle Schinken-Produzenten Mitglied des Konsortiums und vermarkten ihren Schinken selbständig.

Doch generell ließ der Anstieg der Rohstoffpreise die Produktion schrumpfen und schlägt bis zu den Bauern und Endverbrauchern durch. Aber auch die rund 340.000 im Jahr 2023 verkauften Markenschinken machen Fabio Viani stolz. Das sind etwa 5 Prozent der Menge an Parmaschinken. Zufrieden ist Fabio mit dem Absatz nach Nordamerika, wohin jeder siebte der produzierten Schinken geht. Auch Deutschland ist ein guter Kunde, der vor allem aufgeschnittenen Schinken für Supermärkte und Discounter abnimmt.

Für Schinken hat Fabio in den letzten Jahrzehnten einen eigenen Trakt mit 8.000 Quadratmetern aufgebaut, in den er mich erst einmal durch seine gesamte Salamiproduktion führt.

Die authentische Einfachheit, für die man toskanische Lebensmittel lobt, spiegelt sich auch im Schinken wider. Sonne und Wind spielten bei der Reifung stets eine Rolle, die typischen Aromen der Toskana wie Mastix und Myrte schmeckt man heraus und natürlich auch Wacholder und die diversen geheimen Zutaten in den Rezepten der einzelnen Hersteller. Die Verarbeitung respektiert in den kleinen Handwerksbetrieben den Gang der Jahreszeiten und auch Viani berücksichtigt diese in verschiedenen Reiferäumen, in denen die Schinken an hohen Regalen hängend bis zu 20 Monate lang reifen.

Wie wird aus der Keule ein Prosciutto Toscano DOP?

Schinken fett mit Schmalz eingeschmiert

(c) Michael Ritter

Früher wurden die Schweine zu Winterbeginn geschlachtet, heute das ganze Jahr über. Dabei selektiert man sorgfältig innerhalb von maximal fünf Tagen die frischen Keulen. Nur Stücke, die den Vorschriften des Konsortiums entsprechen, haben eine Chance ihren Weg in Vianis riesigen Schinkenkammern zu finden. Mindestens 160 Kilogramm müssen sie auf die Waage bringen und dürfen nicht vor dem Alter von neun Monate geschlachtet werden.

Wenn sie in der Fabrik ankommen, landen die Schweinebeine erst einmal auf dem Tisch der Zuschneider, die den zukünftigen Schinken schnell und gekonnt ihre charakteristische rundliche Form verpassen. Dabei schneiden sie einen Teil des Fettes und der Schwarten weg, um darunter das magere Fleisch der Keule zum Teil freizulegen. Dabei bekommen die Schinken ihren typischen V-förmigen Schnitt, der eine bessere Aufnahme des beim anschließenden Salzen erlaubt. Die Keulen haben dabei ein Gewicht von mindestens 11,8 kg.

Anschließend wandern die Keulen auf direktem Weg zur Würzung, wo man sie trocken mit Salz, Pfeffer, Lorbeer, Rosmarin, Wacholderbeeren, Knoblauch und anderen typischen Gewürzen der Region einreibt und dann bis zu einen Monat lang bei niedriger Temperatur in einer Kühlkammer lagert. Als bei den Bauern die Schweine zu Winterbeginn geschlachtet wurden, war es trocken und kühl, entsprechend wird die Kühlkammer temperiert, egal, ob das Schwein im Winter oder Sommer geschlachtet wurde. Einen Einsatz von Konservierungsstoffen verbietet das Konsortium.

Danach hängt man die Keulen für ein Vierteljahr in spezielle Lagerräume, die das Wetter beim Übergang vom Winter zum Frühjahr simulieren. Anfangs noch recht feucht, kalt und windig, später steigt die Temperatur. Durch diese Schwankungen von Temperatur zwischen 12°C und 25°C und Feuchtigkeit entzieht man dem Schinken Schritt für Schritt eingelagertes Wasser. Jetzt kann die Reifephase beginnen.

Wenn es für den Schinken langsam Sommer wird, reduziert Fabio Viani im Lagerhaus die Luftfeuchtigkeit. Dann tasten seine Mitarbeiter die Schinken sorgfältig ab und reiben sie dann dick mit Schmalz ein. Wie beim Menschen eine Creme die Haut vor der Austrocknung schützt, sorgt auch das Gemisch aus Schweineschmalz, Reismehl, Salz und Pfeffer dafür, dass dem Schinken nicht übermäßig Wasser entzogen wird, da er weich bleiben soll, um richtig zu reifen. Das darf dann in aller Ruhe in riesigen Schinkenkammern, in denen bei Viani die Schinken über- und nebeneinander an Gerüsten hängen und in denen stets auf die optimale Temperatur und Feuchtigkeit geachtet wird. Gegen Ende der Reifephase, die mindestens zehn Monate oder zwölf Monate (je nach Gewicht) aber auch bis zu zwei Jahren dauert, wird der Salz- und Feuchtigkeitsgehalt des Schinkens überprüft. Fabio kontrolliert die Qualität immer gerne selbst, wenn er durch den Betrieb läuft. Dafür hat er immer seinen Osso ago die Cavallo dabei, die Pferdeknochennadel.





Fabio Viani mit der Pferdeknochennadel

(c) Michael Ritter

Der Test mit der Pferdeknochennadel

Schineknregale auf dem Weg durchs Lager

(c) Michael Ritter

Sie wird aus echten Pferdeknochen hergestellt und ist das Handwerkszeug des Prosciutto-Meisters. Sie ermöglicht es, den richtigen Reifegrad durch den Puntatura-Test zu überprüfen. Dünn, spitz und sehr porös, fängt sie schnell das Aroma des angestochenen Fleischs ein und gibt es an die erfahrene und feine Nase des Kenners weiter. Fabio sticht mit der Nadel immer wieder an verschiedene Stellen in den Schinken, riecht daran und hält sie auch mir unter die Nase. Ich erkenne das schöne Aroma eines reifen Schinkens und zum Glück komme ich nicht in die Verlegenheit, verdorbenes Fleisch attestieren zu müssen. Der Vorteil der sehr zerbrechlichen handgeschnitzten Nadel liegt darin, dass man sie sofort wiederverwenden kann, was das Überprüfen erleichtert. Gewaschen wird sie nie, es reicht, wenn man sie ab und zu an der Schürze abwischt. Der “Osso ago di cavallo” dient auch bei der finalen Kontrolle auf Geruch und Trockenheit dem unabhängigen Prüfer, der nach mehrfachem Pikieren den Schinken zum Verkauf und zum Aufbrennen der Brandmarke frei gibt. Getestet wird die Intensität des Dufts des mageren Teils und die Süße des Fetts. Der magere Teil sollte einen leichten Duft nach Trockenfrüchten, Haselnuss, Holz und Salz aufweisen, der fette Teil süß duften.

Die Brandmarke

Nicht nur fürs Butterbrot - Prosciutto Toscano

(c) Michael Ritter

Die Brandmarke, die den Schinken dann aufgebrannt wird, zeigt das Profil der Toskana, vier Sterne und den Schriftzug Prosciutto Toscano DOP. Dann gibt es Pfeffer, denn schwarzer Pfeffer, der reichlich auf dem mageren Teil des Schinkens verteilt wird, ist charakteristisch für den toskanischen DOP-Schinken. Einst sollte er den Befall von Insekten verhindern. Er hat dann ein Gewicht von 7,5 bis 9,5 kg, je nach Dauer der Reife und Anfangsgröße und hat knapp 40 Prozent seines Anfangsgewichts verloren.

Schwein von Fabio Viani

(c) Michael Ritter

Verkostung in der Kunstausstellung

Kunstwerk von Fabio Viani)

(c) Michael Ritter

Zurück im Büro fallen die phantasievollen lustigen Kunstwerke an den Wänden auf, die Hausherr Fabio selbst geschaffen hat. Er stellt Kunstwerke aus nicht mehr genutzten Werkzeugen und Gegenständen aus der Manufaktur her und stellt sie im Verkostungsraum von Viani aus.

Am besten schmeckt der Prosciutto Toscano DOP, da ist sich Fabio Viani ganz sicher, wenn er auf traditionelle Art mit einer kalten Klinge von Hand geschnitten wird, denn nur so kann man das Aroma des Schinkens voll erfassen. Durch die kalte Klinge des Messers bleiben sie intakt. Es ist ein langes, scharfes und elegantes Messer. Viani macht daraus fast eine Wissenschaft, wie man den Schinken in dem Schraubstock, der ihn fixiert einspannt, wie der Knochen aus ihm herausragt, wo das Messer angesetzt werden muss. Fast hat man den Eindruck, der köstliche Schinken soll durch die Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die man ihm entgegenbringt geadelt werden. Das Messer geht um den Knochen herum, nicht zu tief, nur einen Finger breit. Vor dem Genuss wird der restliche Schmalz und der Pfeffer entfernt, aber nur dort, wo er dann in dünne Scheiben geschnitten werden soll. Zwar haben viele ihre persönliche Vorliebe dabei, aber Fabio bevorzugt den sogenannten „italienischen Schnitt“, bei dem lange dünne Scheiben am Stück geschnitten werden. So können auch die organoleptischen Eigenschaften des Schinkens verbessert werden. Wie Fabios Werke an der Wand ist das Schneiden eines Schinkens kein Handwerk - sondern echte Kunst.

Meist genießt man ihn – wie bei meiner Verkostung - mit etwas Brot, Käse und Wein, aber auch als Vorspeise mit Melone oder auf Sandwiches ist er ein vielseitiger und beliebter Bestandteil der toskanischen Küche. Ein echtes kulinarisches Juwel der Toskana. Handwerkskunst, Geschmack und historische Erbe machen ihn zu einem unverzichtbaren Bestandteil der toskanischen Gastronomie, den man bei einem Besuch unbedingt probieren sollte.

© Michael Ritter

Fabio Viani und seine Schinken

(c) Michael Ritter

(c) Magazin Frankfurt, 2024