Haruf, Lied der Weite

Erst spät sind wir und die meisten Fans in der Welt auf ihn aufmerksam geworden: Den US-Schritsteller Kent Haruf, der 2014 71-jährig verstarb und seine sechs Romane in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados angesiedelt hatte. Erst sein letzter, 2015 posthum veröffentlichter Roman "Unsere Seelen bei Nacht" wurde in seiner unaufdringlichen Art der Erzählung zum internationalen Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Jetzt hat man sich an sein 1999 erschienenes Buch "Plainsong" erinnert, das bereits 2001 unter dem Titel flüchtiges Glück bei Goldstein erschienen ist.

Auf Deutsch bedeutet der englische Originaltitel "Gregorianischer Gesang" oder Cantus planus. Haruf nennt es kurz und prägnant "eine einfache und schlichte Melodie oder Weise", was perfekt zu diesem wunderschönen Buch passt, dessen Geschichte am Rande der Prärie spielt. Tom Guthrie ist ein Highschool-Lehrer, dessen Frau das Bett nicht verlassen kann -- oder will; die McPhersons sind zwei in die Jahre gekommene, unverheiratete Brüder, die nur wenig von der Welt außerhalb der Grenzen ihrer Farm kennen; Victoria Roubideaux ist eine schwangere 17-Jährige, die nicht weiß, wohin sie gehen soll. Diese Menschen leben nebeneinander her, wie es in den Kleinstädten überall in Amerika üblich ist -- bis Maggie Jones, eine weitere Lehrerin, dafür sorgt, dass sich ihre Wege kreuzen. Während sie bemüht ist, Guthrie aus seiner dunklen Wolke herauszuziehen, sorgt sie dafür, dass Victoria bei den beiden McPherson-Brüdern unterkommt, die sich mit Rindern weitaus besser auskennen als mit Teenagern.

Als sich Victoria eines Tages Sorgen macht, sie hätte ihrem ungeborenen Kind Schaden zugefügt, versuchen sie sie mit der besten Lüge, die ihnen einfällt, zu beruhigen: "Wir hatten irgendwann einmal eine junge, trächtige Kuh, in die irgendwie ein Stück Zaundraht geraten ist -- und es hat weder ihr noch ihrem Kalb geschadet."

Holt, Colorado, ist die Art Kleinstadt, in der jeder schon im Voraus weiß, was der andere so macht. Auf gewisse Weise trifft das auch auf dieses Buch zu. Viel Spannung gibt es nicht und man kann jede Wendung schon lange im Voraus erkennen. Es ist der bis ins Detail perfekte Dialog, umhüllt von einer Prosa, die zwar direkt, aber dennoch reich an Einzelheiten ist, der das Buch so besonders macht: der Blick aus dem Autofenster, der eine Frau zeigt, die ihren weißen Schoßhund an einem Stück Geschenkband spazieren führt, die an die Kreide der Dorfschule erinnernde Gesichtsblässe einer Mutter, der Geruch von Heu und von Mist, das wechselnde Licht der Prärie. Auch die größeren Fragen des Romans werden in mundgerechten Stücken serviert. Wird Guthrie endlich Liebe erfahren? Wird Victoria mit dem Vater ihres Kindes davonlaufen? Werden die McPhersons lernen, eine Unterhaltung zu führen? Aber in diesem Fall ist das Ganze weitaus größer als die Summe seiner Einzelteile. Vermutlich wird sich der Verlag auch um die anderen vier Bände über Holt und seine Menschen kümmern. Wir sind schon gespannt.

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(c) Magazin Frankfurt, 2020